Totale Transparenz: „Lasst uns doch mal drüber sprechen!“
Soziale Dichte ist definiert als das Verhältnis der vorhandenen Beziehungen zur Anzahl maximal möglicher Beziehungen. Eine hohe soziale Dichte ist erreicht, wenn von zehn Personen einer Gruppe, eines Arbeitsteams, eines Bekanntenkreises jeder einzelne zu den neun anderen Personen eine möglichst intensive Beziehung hat – sowohl, was die Anzahl der Kontakte als auch die emotionale Bindung angeht.
Soziale Dichte erzeugt Reibung
Je näher sich Menschen kommen, umso dichter rücken sie aneinander heran, umso eher berühren sie sich. Und wie jeder weiß: Reibung erzeugt Wärme. Manchmal Hitze, in besonderen Fällen auch Überhitzung. Jeder, der schon mal Familientreffen hinter sich gebracht hat, dürfte einschlägige Erfahrungen haben.
Verhandlungsgeschick ist die Fähigkeit, geschickt und mit vorteilhaften Ergebnissen zu verhandeln. Verfügen Sie darüber? Und was ist, wenn ein Kollege über mehr davon verfügt? „Aha! Und was hat das jetzt alles mit mir zu tun? Und damit, dass wir doch mal darüber sprechen sollen? Mit wem überhaupt?“ Na, mit den Kollegen und dem Chef! „Und worüber sollen wir sprechen?“ Über Gehalt, Arbeitszeit und Urlaub …!
Selbstbestimmung und totale Transparenz
Von der neuen Arbeitswelt wird viel geredet. Sie stünde im Zeichen der Selbstbestimmung, so heißt es. Da liegen Meldungen wie die über die Digital-Agentur Elbdudler im Trend. Die Mitarbeiter bestimmen ihr Gehalt dort selbst. Totale Transparenz also darüber, wer wie viel verdient, vor allem, weil man sich auch das Ok der Kollegen einholen muss. Ein anderes Unternehmen gibt die Arbeitszeit frei – allerdings mit Einschränkungen: Die Arbeit müssen die Mitarbeiter natürlich schon erledigen. Und bei der Schweizer Firma Umantis, die zur deutschen Haufe-Gruppe gehört, stimmen die Mitarbeiter über ihren Vorgesetzten ab. Schöne neue Zukunft? Würden Sie sich wünschen, in solchen Strukturen zu arbeiten?
Alle Befürworter solcher Systeme sind sich in einem einig: Mitarbeiter wollen grundsätzlich das Beste für ihr Unternehmen. Natürlich macht es mehr Freude, in einem Unternehmen zu arbeiten, das erfolgreich ist und mit dem man sich identifizieren kann. Denn Mitentscheiden steigert die Motivation und die Leistung und setzt Fähigkeiten frei. Unternehmen, die sich so organisieren, haben eine höhere soziale Dichte. Alle reden mehr miteinander, müssen mehr miteinander reden, sich abstimmen, Lösungsmöglichkeiten aushandeln – denn die üblichen Leitplanken, die unseren Arbeitsalltag regeln, fallen ja weg.
Wollen Sie wirklich totale Transparenz?
Beim eigenen Gehalt also mitreden? Sagen können, was man gerne verdienen möchte? Verlockend! Das öffentlich vor allen Kollegen tun? Verstörend! Vor allen begründen, warum man der eigenen Einschätzung nach mehr verdienen sollte als die andern? Fürchterlich! Ohne Zeitkontrolle arbeiten können, wann man will? Wunderbar! Ein oder zwei Tage freinehmen können? Wer will das nicht? Die sehr viel höhere Eigenverantwortung auf Dauer ertragen ohne den Schutz von klar definierten Regelungen? Das wird vielleicht in Richtung Selbstausbeutung umschlagen. Und wer sagt es dem Kollegen, der auf Dauer zu wenig tut? Dass er auf meine Kosten herumtrödelt und ich das ausbaden und nacharbeiten muss, dass das so nicht geht?
Das Problem nach oben an den Chef durchreichen, das geht in solchen Strukturen nicht mehr. Meckern hilft auch nicht. Also müssen Sie und ich und Ihre Kollegen das untereinander regeln. Selbst dann, wenn wir uns eigentlich gar nicht so besonders gut leiden können. Damit sind wir wieder beim Anfang: Man verhandelt! Sind Sie gut darin, in eigener Sache zu verhandeln? Man diskutiert, man sucht nach Lösungen, man ist unterschiedlicher Meinung, man reibt sich – und Reibung erzeugt Wärme. Manchmal mehr als das. Manchmal entzündet sich daran auch ein regelrechter Brand. Und man verbrennt sich. Mit Glück nur wenig. Das ist der Preis! Wollen Sie ihn bezahlen?
Viele Grüße
Ihre Sabine Kanzler
Siehe auch: New Work – Wandel der Unternehmenskultur
Bild: Hernan Gonzalez | flickr.com | CC by 2.0 | Ausschnitt