Muss man lügen, um erfolgreich zu sein?
Wer lügen will, der braucht …
- … Phantasie, mindestens dann, wenn die Lüge nicht nur aus einer eher schlichten Geschichte à la „Ich bin zu spät, weil ich einer alten und gehbehinderten Dame über die Straße zum Supermarkt geholfen und anschließend ihre Einkäufe nach Hause gebracht habe“ bestehen soll. Denn eine Lüge muss in sich stimmig sein. Je komplexer sie ist, umso mehr Phantasie braucht es, sie auszudenken.
- … ein gutes Gedächtnis! Er muss sich an die Details seiner Geschichte dauerhaft erinnern können.
- … eine hohe soziale Intelligenz. Er muss einschätzen können, was sein Gegenüber alles weiß, ob er ihn durchschauen könnte und ob sich der Aufwand eines detailreich konstruierten Lügengebäudes überhaupt lohnt.
Wer erfolgreich lügen will, der darf keine körperlichen Reaktionen zeigen, sobald er die Lüge ausspricht: kein Schweißausbruch, keine roten Flecken am Hals und im Gesicht, keine verräterisch zuckenden Augenlider! Ohne die entsprechende körperliche Disposition also keine zukünftige Karriere, die auf der Fähigkeit, überzeugend zu lügen, aufgebaut ist! Daher will es gut überlegt sein, auf Basis welcher Fakten man sein Leben – sein privates wie auch sein berufliches – gestaltet.
Überzeugendes Lügen für den Job?
Bleiben wir beim Job: Für manche Berufsfelder ist „überzeugendes Lügen“ Grundqualifikation. Für Heiratsschwindler beispielsweise. Oder wenn Sie sich undercover in eine Organisation einschleusen lassen wollen, um dann als Kronzeuge den Dealer Ring überführen zu können. Böse Zungen behaupten auch, dass Vertriebstätigkeiten aller Art die Fähigkeit zur Lüge, ohne rot zu werden, beinhalten.
Wer gut lügen kann, ist klar im Vorteil. Zumindest unterstellt eine englische Studie guten kindlichen Lügnern ein erhöhtes Maß an Intelligenz. Nun ist „Lüge“ nicht gleich „Lüge“. Am Anfang steht das Dehnen der Wahrheit, das Verschweigen mancher Fakten. Am Ende der Entwicklung stehen bewusste Falschaussagen und kriminelle Energie.
Im Bewerbungsprozess dehnt so gut wie jeder die Wahrheit ein bisschen. Das sieht – in Grenzen – auch kaum einer als besonders dramatisch an. Irgendein Personaler sagte einmal: „In den Bewerbungsunterlagen und im Vorstellungsgespräch trifft man fast immer nur High Potentials – die sich nach ein paar Monaten im Arbeitsalltag in aller Regel als ganz normale und mehr oder weniger tüchtige Mitarbeiter entpuppen. Das ist auch nicht weiter schlimm, man muss nur wissen, dass es so ist.“
Wahrheitsbeugung und Karriere
Wer Karriere machen will und kann, der vermittelt ein bestimmtes Bild von sich im Unternehmen: Er demonstriert Leistungsbereitschaft, Durchhaltevermögen, Loyalität, Identifikation mit den Unternehmenszielen, die Fähigkeit und Bereitschaft zur Selbstdisziplin … Außerdem ist er (fast immer) „gut drauf“ und „kann“ mit fast jedem – man muss gerade in Großunternehmen mehr oder weniger mit allen zurechtkommen.
Dabei hilft, die eigene Befindlichkeit nicht ständig gut sichtbar vor sich herzutragen, höflich und diplomatisch sein zu können, auch wenn einem gerade die Galle hochkommt. Manche bezeichnen so ein Verhalten schon als „lügen“. Wie Sie es selber halten mit der Wahrheitsbeugung ist die eine Seite der Medaille. Die andere – mindestens ebenso wichtige – ist die Frage, ob und wie Sie erkennen, wo Sie Ihrem Gegenüber trauen können.
Früher, als Sprichwörter noch gegolten haben und in Märchen das wirkliche Leben erzählt wurde, war das einfach. Pinocchio wuchs beim Lügen die Nase und der Blick auf die Beine zeigte die Wahrheitsliebe des anderen. Wenn sich die Proportionen verschoben und die Beine immer kürzer wurden … voilà: Der Lügner war überführt! Heute hingegen …
Ihre Sabine Kanzler
Bild: Renzo Ferrante | flickr.com | CC by 2.0 | Ausschnitt