Inkompetenz-Effekt bei Investitionsentscheidungen
Würden Sie ein Auto kaufen, ohne es vorher Probe zu fahren? Vermutlich ziehen Sie jetzt wie die meisten Menschen die Augenbrauen hoch und schütteln den Kopf. Wir denken, dass es für eine nennenswerte Investition eine Art Vorführung geben muss, damit der Kunde eine Entscheidung treffen kann. Möglicherweise handelt es sich dabei um einen Denkfehler. Denn wir beziehen unsere Erfahrung aus Situationen, in denen wir selbst eine (private) Investitionsentscheidung treffen. Zum Beispiel, wenn wir uns ein Auto zulegen. Und im Geschäftskundenumfeld? Einer der Unterschiede besteht in dem, was ich Inkompetenz-Effekt nennen möchte. Entscheider und ihre Mitarbeiter tendieren nämlich dazu, Entscheidungen durch Prüfungen zu stützen, die sie schlicht nicht kompetent beurteilen können.
Ein Beispiel für den Inkompetenz-Effekt
Der Inkompetenz-Effekt ist typisch für Projektentscheidungen, die der Entscheider in seiner Karriere nur sehr selten trifft. Lassen Sie mich dies an einem Beispiel verdeutlichen. Angenommen ich habe eine knöcherne Veränderung an meiner rechten Ferse. Diese wird als Haglund-Syndrom bezeichnet. Dabei handelt es sich um eine schmerzhafte Angelegenheit, bei der unter der Achillessehne ein Knochen heranwächst. Diese ist daher permanent entzündet und man passt in keinen normalen Schuh mehr hinein. Es gibt vielfältige Behandlungsmethoden. Beispielsweise minimalinvasiv oder herkömmlich. Mit oder ohne Schnitt an der Sehne. Bis hin zu abenteuerlichen Eingriffen mit Schrauben und selbst verwachsenden Dübeln aus Industriezucker.
Nun bin ich ja kein Orthopäde – wie kann ich also entscheiden, welche dieser Behandlungsmethoden für mich geeignet ist, wenn alle Eingriffe von drei unterschiedlichen und erfahrenen Ärzten angeboten werden? Ich werde vermutlich damit beginnen, Informationen zu sammeln, Erfahrungsberichte lesen und Videos auf Youtube ansehen. Das macht mich jedoch nicht kompetenter, denn ich erfahre lediglich, welche Erfahrungen andere Menschen gemacht haben. Dieses Wissen hilft mir in meiner individuellen Lage jedoch nicht wirklich.
Ob meine Entscheidung die richtige war, werde ich erst hinterher erfahren. Und selbst, wenn bei dem Eingriff etwas schief geht, heißt das noch lange nicht, dass eine andere Methode besser gewesen wäre. Eine ähnliche Situation begegnet uns fast immer dann, wenn in einem Unternehmen die Entscheidung für eine Investition getroffen werden soll. Denn es gibt zahlreiche Parameter und keine Chance, alle Fakten kompetent zu überprüfen.
Einbeziehen der Mitarbeiter kann Inkompetenz-Effekt verstärken
Stellen wir uns vor, es geht um eine neue Software zur Steuerung der grundlegenden Unternehmensbereiche wie Logistik, Lager, Lieferung und Faktura – schlicht ERP (Enterprise Ressource Planning). Wie oft vermuten Sie, wird ein Entscheider im Laufe seiner Karriere eine solche Entscheidung treffen? Einmal? Zweimal? Sicher nicht öfter als dreimal. Wie kompetent kann er also sein, um die relevanten Dinge zu berücksichtigen?
Er wird die Entscheidung vermutlich nicht allein treffen, sondern seine Mitarbeiter einbeziehen. Aber wird es dadurch besser? Ich denke, dass dadurch der Inkompetenz-Effekt noch erweitert wird. Das möchte ich gerne anhand meiner Mofa-Geschichte verdeutlichen. Angenommen Sie verkaufen Kipp-Laster, mit denen Schutt von A nach B transportiert wird.
Sie treffen auf einen Kunden, der alle Voraussetzungen erfüllt, um dieses Produkt einzusetzen und erheblich davon zu profitieren. Sie sind überzeugt, dass Ihre Lösung eine entscheidende Verbesserung herbeiführen wird. Nicht zuletzt haben Sie bereits zigmal an ähnliche Kunden erfolgreich verkauft und Referenzkunden gewonnen. Der Entscheider möchte nun allerdings noch seine Mitarbeiter einbeziehen.
Das Dumme an der Sache: Bisher stützten sich die Prozesse auf das Transportmittel „Mofa“ mit einem Anhänger für Schutt. Den Mitarbeitern ist klar, dass es so nicht weitergehen kann. Sie sind es aber nun mal gewohnt, die Arbeit mit dem Mofa zu erledigen. Nun sollen sie die neue Lösung „Kipp-Laster“ ausprobieren und beurteilen. Bei einem Vorführtermin läuft alles einwandfrei. Dennoch gibt es einige kritische Anmerkungen:
- Das Lenkrad ist nicht das passende Mittel. Eine Lenkstange wird verlangt.
- Die Bremse sollte statt mit dem Fuß weiterhin mit der rechten Hand bedient werden.
- Die Kupplung darf nicht mit dem linken Fuß, sondern mit der linken Hand bedient werden.
- Die Schaltung soll auf den linken Fuß verlegt werden, statt so wie in dem Demo-Kipp-Laster auf die rechte Hand…
Wie auf den Inkompetenz-Effekt reagieren?
Was machen Sie, wenn eine solche Situation im Verkaufsprozess auftaucht? Nun mein Vorschlag ist, dem Entscheider genau diese Geschichte zu präsentieren. Ich mache das zumindest so. Und wenn ich das getan habe, mache ich eine kurze Pause, schaue dem Entscheider tief in die Augen und frage sinngemäß: „Wie groß schätzen Sie die Gefahr ein, dass wir einen ähnlichen Effekt auslösen, wenn Sie jetzt Ihre Mitarbeiter einbeziehen?“
Darüber hinaus ist es doch oft so, dass sich die neue Lösung mehr oder weniger auf die Arbeit der Mitarbeiter auswirken wird. Häufig sogar in einer zunächst als bedrohlich wahrgenommenen Weise. Kennen Sie den Spruch: „Wer den Sumpf trockenlegen will, sollte nicht die Frösche fragen“? Was aber, wenn wir ansprechende Geschichten erzählen, die in Erinnerung bleiben und einen Denkprozess auslösen, der Lust zum Handeln macht? Wenn Sie Drehbuchautor sind, dann wissen Sie, was ich meine. Wenn nicht, lassen Sie mich eine sehr kurze Anleitung dazu anbieten.
Bewegung durch Rhythmus
Die US-amerikanische Autorin Nancy Duarte hat sich einen Namen gemacht, wenn es um eindrucksvolle Präsentationen geht. In letzter Zeit hat sie sich auch mit außergewöhnlichen Reden beschäftigt. Sie erklärt die Wirkung verschiedener Reden anhand des Wechselspiels zwischen den beiden Erzählebenen „Wie es heute ist“ und „Wie es künftig sein wird bzw. sein sollte“. Am Beispiel berühmter Reden zeigt sie, wie es den Vortragenden gelungen ist, die Zuhörer auf eine Reise vom Heute in ein besseres Morgen einzuladen. Das können Sie auch.
Beginnen Sie von der aktuellen Situation zu sprechen. Machen Sie deutlich, dass es nicht um eine x-beliebige Situation geht, sondern genau um diese hier. Dann sprechen Sie davon, wie es sein wird, sobald die Entscheidung getroffen und in die Tat umgesetzt ist. Dabei stellen Sie die Ergebnisse in den Vordergrund und lassen die Details weg. Wechseln Sie immer wieder zwischen den beiden Ebenen „heute“ und „später“ hin und her, um eine gewisse Spannung zu erzeugen und enden Sie mit einer genüsslichen Beschreibung der Ergebnisse und des Nutzens.
Eine Heldenreise gegen den Inkompetenz-Effekt
Jede Investition ist ein Aufbruch ins Ungewisse. Gute Geschichten und jeder erfolgreiche Film beschreiben auf ihre Weise eine solche Reise. Ein Held bekommt den Ruf, sich ins Abenteuer zu begeben, dem er sich jedoch zunächst verweigert. Dann gibt es aber doch den Aufbruch, anfängliche Probleme, unerwartete Hilfe, sich steigernde Probleme und neue Hilfe. Es folgt die entscheidende Erkenntnis, die den Helden weiterentwickelt, so dass er zunächst nicht zurück in die alte Welt will. Jedoch muss er zurück in den Alltag, welcher aber mit den neuen Fähigkeiten und Erkenntnissen eine neue Qualität bekommt. Der Held ist gewachsen und sein Umfeld hat profitiert.
Solchen Strukturen folgen alle spannenden Geschichten, die wir gerne miterleben wollen. Der amerikanische Mythenforscher Joseph Campell hat diese Struktur geprägt und vielen Drehbuchautoren neue Möglichkeiten eröffnet. Setzen Sie Ihren Entscheider als Helden in eine solche Geschichte ein. Sprechen Sie von der Investitionsentscheidung und lassen Sie ihn teilhaben. Sprechen Sie über eine Heldenreise, die seine sein könnte und überlassen Sie es ihm, sich hineinzudenken.
Bleibende Erinnerung
Die Brüder Chip & Dan Heath beschäftigen sich mit der Frage, wie man Ideen so „verkauft“, dass sie hängen bleiben. Sie haben festgestellt, dass man erfolgreiche Ideen an wenigen charakteristischen Merkmalen erkennt. Nicht erfolgreiche jedoch kaum kategorisieren kann, weil jede für sich einzigartig schlecht ist. Die sechs Kriterien, die sie herausgearbeitet haben sind:
- Einfach – Was kann man noch weglassen, ohne den Sinn zu verfälschen? Was ist zu kompliziert? Wie kann man es ohne Fremdworte sagen?
- Unerwartet – Wo ist die Überraschung? Welche unerwartete Wendung gibt es?
- Konkret – Wie kann man es mit bildhaften klaren, statt abstrakten Worten sagen? Welchen Bezug hat es zu hier, heute und uns?* Glaubhaft – Welche Zeugen gibt es? Welche Beweise kann man anführen? Wo ist es selbsterklärend?
- Emotional – Wie kann man es emotional aufladen? Was bedeutet es für das Leben der Beteiligten?
- Erzählend – Wie wird eine gute Geschichte daraus? Was muss ich beachten, damit sie weitererzählbar ist?
Machen Sie sich eine Checkliste zu diesen sechs Punkten und arbeiten Sie immer wieder an Ihren Präsentationen, Herleitungen, Beispielen und Anekdoten, die Sie erzählen, um diese Punkte von Mal zu Mal besser zu erfüllen. Sicher wird es nicht möglich sein, immer und in jedem Fall sämtliche Punkte abzudecken, aber je mehr dieser Kriterien erfüllt sind, desto eindrucksvoller werden Sie.
Ihr Stephan Heinrich
Siehe auch: Verkaufspräsentation – Hirn statt Folienschlacht
Bild: Michael Hamann | flickr.com | CC by 2.0 | Ausschnitt