Nutzenerwartung im Verkaufsgespräch ermitteln

Wir haben uns bereits mit dem Handlungsdruck beschäftigt, der neben einer einfachen Motivation notwendig ist, um eine komplexe Kauf- oder Investitionsentscheidung herbeizuführen. Nun soll es um den eineiigen Zwilling des Handlungsdrucks gehen – die Nutzenerwartung des Kunden.

Nutzenerwartung

Die Notwendigkeit des „Hin-zu-Anreizes“

Spricht man in der Psychologie von Motivation, werden die Anreize in „Von-weg-Anreize“ und „Hin-zu-Anreize“ unterschieden. Der Handlungsdruck unterdessen beschreibt etwa den Anreiz, eine Situation zu verlassen. Diesen benötigen wir, um Geschäftskunden zu gewinnen. Denn Investitionsentscheidungen fallen dann, wenn der Status Quo nicht mehr tragbar ist (oder in absehbarer Zeit untragbar wird).

Allerdings reicht das allein nicht aus, damit sich der Kunde aus einer Vielzahl von Optionen für Sie entscheidet. Dafür bedarf es einem „Hin-zu-Anreiz“ zu einer Zusammenarbeit mit Ihnen. Wollen wir das Vision nennen? Vielleicht kennen Sie den Satz, den Helmut Schmidt gesagt haben soll, um eine Äußerung eines politischen Gegners ins Lächerliche zu ziehen: „Wer Visionen hat, soll zum Arzt gehen.“ Dem stimme ich zu. Wer Visionen (Mehrzahl) hat, der möge sich Hilfe suchen. Wer allerdings eine Vision hat, der wird sich davon leiten lassen.

Was vorstellbar ist, ist auch umsetzbar

Eine Vision ist die konkrete Vorstellung einer zukünftigen Situation. Eine plastische Vorstellung dessen, was noch nicht wirklich, aber möglich ist. Für etwas, das man sich vorstellen kann, kann man sich auch einsetzen. Etwas in der Realität anzustreben, das ich in meiner Fantasie nicht erfinden kann, funktioniert hingegen nicht.

Meine Oma war bekannt für den Spruch: „Wenn du wegen einer Erkältung zum Arzt gehst, dauert es 14 Tage. Wenn du nicht zum Arzt gehst, dauert es zwei Wochen.“ Für sie war also klar, dass ein Arztbesuch einer simplen Erkältung wegen keinen Nutzen bringt. Im wahrsten Sinne konnte sie sich nicht vorstellen, dass der Arzt hilft. Mit dieser Sichtweise wird wohl niemand zum Arzt gehen und sich behandeln lassen.

Für uns bedeutet das: Wir müssen die Vorstellung des Nutzens unserer Zusammenarbeit in der Vorstellungskraft des Entscheiders verankern. Dafür sollten wir im Gespräch genau skizzieren, was er bekommt, wenn er sich richtig entscheidet. Um das zu erreichen, müssen wir die richtigen Fragen stellen.

Regen Sie die Fantasie an

Wie stellt man gute Fragen nach der Nutzenerwartung? Wie bringt man den Kunden dazu, sich seiner Vorstellungskraft zuzuwenden? Nun, die Antwort steckt schon in der Frage: Indem wir seine Fantasie und Vorstellungskraft anregen. Sehen wir uns einen Beispieldialog an:

Verkäufer (stellt Auswirkungsfrage): Ein Prozent Zinserhöhung. Welche monetären Konsequenzen hätte das in etwa für Ihr Unternehmen ab dem kommenden Geschäftsjahr?

Kunde: Nun, das wollen wir ja gerade vermeiden. Rein kalkulatorisch ergeben sich bei unserem Stand des Fremdkapitals zusätzliche Finanzierungskosten in einer Größenordnung von rund 45.000 Euro pro Jahr.

Verkäufer: Nehmen wir an, wir könnten gemeinsam etwas Sinnvolles dagegen tun. Was konkret müsste erreicht sein, damit Sie zufrieden sind?

Kunde: Na ja, das Risiko der Zinserhöhung müsste verschwinden.

Verkäufer: Ok. Ich denke, das lässt sich realisieren. Und woran genau werden Sie erkennen, dass dieses Ziel für Sie erreicht ist?

Kunde: Wenn ein Gespräch mit unserer Bank das bestätigt. Wenn unser Betreuer von der Hausbank die Kriterien offenlegt und diese erfüllt sind.

Verkäufer: Verstehe. Also wenn wir die Kriterien Ihrer Hausbank erfüllen, um die Risikobewertung für Ihr Unternehmen zu halten (oder gar zu verbessern), dann wäre das für Sie Grund genug, diese Investition ernsthaft in Erwägung zu ziehen?

Kunde: Ja. Das wäre realistisch, wenn dann auch noch die Investitionssumme zum Return on Invest passt.

Verkäufer: Nehmen wir an, die Risikothematik ist gelöst – In welchem Verhältnis müsste dann die Investitionssumme zum Return on Invest stehen?

Kunde: Wir investieren nur in Projekte, wenn der ROI binnen 18 Monaten erreicht wird.

Verkäufer: Ok. Also wenn wir neben der Klärung der Risikobewertung eine von Ihnen bestätigte ROI-Rechnung zeigen können, die binnen 18 Monaten oder schneller einen Ertrag zeigt, dann kommen wir ins Geschäft?

Kunde: Wenn das alles erreicht ist, dann kann ich mir das sehr gut vorstellen.

In die Kundenperspektive wechseln

Der Dialog verdeutlicht, wie sinnvoll es sein kann, in die Kundenperspektive zu wechseln und herauszufinden, was der Gesprächspartner denkt, erwartet und wie er sich einen künftigen Erfolg vorstellt.

In diesem Fall handelt es sich um einen sehr speziellen Nutzen. Selbst ein erfahrener Verkäufer hätte Schwierigkeiten, diesen Nutzen herauszufinden. Aus diesem Grund ist es weit einfacher und wirkungsvoller, wenn wir statt Argumenten insbesondere Fragen produzieren. Nur so erhalten wir einen Einblick in die Perspektive des Kunden, die er auf den möglichen Nutzen hat, den echten Nutzen also.

Dabei sollte man vermeiden, Nutzen und Vorteil gleichzusetzen, denn ein Vorteil kann beliebig und konstruiert sein. Während der echte Nutzen nur aus der Perspektive des Kunden klar wird.

Fragen zur Nutzenerwartung

Lassen Sie uns noch etwas Zeit investieren, um einige Beispiele für die Formulierung von Nutzenfragen zu diskutieren:

  • „Lieber Kunde, stellen Sie sich vor, ich bin die Waldfee und Sie hätten drei Wünsche frei: Welche idealen Verbesserungen würden Sie sich im Zusammenhang mit Ihrer Unternehmenssoftware für das kommende Jahr wünschen?“
  • „Angenommen, wir treffen uns heute in einem Jahr wieder und blicken auf ein erfolgreich realisiertes Projekt zurück. Was genau würde sich im Zusammenhang mit Ihrer Unternehmenssoftware für Sie messbar verbessert haben?“
  • „Wenn es so etwas wie eine Zeitmaschine gäbe und wir jetzt Gelegenheit hätten, auf diese Weise einen Blick in die Zukunft zu werfen – Welche positiven Veränderungen könnten wir dann im Zusammenhang mit Ihrer Unternehmenssoftware heute in zwölf Monaten im besten Fall schon sehen?“

Diese drei Beispiele sind nach einem Bauplan erstellt worden, den Sie gerne für Ihre Fragen verwenden dürfen:

1. Annahme statt Abfrage

Bei diesem Beispiel wurden mehr oder weniger fantastische Annahmen formuliert, um die Fantasie anzuregen. Je verrückter die Annahme, desto freier die Vorstellungskraft. Wenn Sie einfach nur abfragen würden: „Was wird sich verändert haben?“, bekämen Sie wahrscheinlich vorsichtige Antworten oder gar ein: „Ich kann doch nicht in die Zukunft sehen.“ Verwenden Sie jedoch ganz bewusst den Konjunktiv und lassen damit offen, ob es so tatsächlich wird, steigt automatisch die Bereitschaft, über das Mögliche nachzudenken.

2. Positiver Fokus

Die eben genannten Fragen lenken den Blick alle auf ein „erfolgreiches Projekt“ oder „positive Veränderungen“. Bereits die Formulierung der Frage lässt das gewünschte Ergebnis im Kopf des Gesprächspartners entstehen.

3. Konkrete Zukunft

Wahrscheinlich ist es Ihnen nicht entgangen, dass alle Formulierungen einen konkreten Zeitraum enthalten. Obwohl wir gleichzeitig eine eher unrealistische Annahme wählen, werden wir bezüglich des Zeitrahmens ausgesprochen konkret. Dies können Sie für sich so übernehmen, damit sich die Antwort des Kunden nicht nur auf wilde Spekulationen bezieht, sondern zu einer realistischen Annahme werden kann – bezogen auf einen konkreten Zeitpunkt.

Schmerz und Nutzenerwartung ergeben den Bedarf des Kunden

Wenn es uns gelingt, sowohl die Nutzenerwartung als auch den Schmerz des Kunden zu identifizieren, dann haben wir unser wichtigstes Ziel der Gesprächsführung erreicht und beide Komponenten für Investitionsentscheidungen ermittelt. Beide zusammen ergeben den konkreten Bedarf. So lange wir lediglich das Problem gefunden haben – und sei es auch noch so groß – sind wir nur beim latenten Bedarf. Denn wer ein Problem hat, könnte zwar eine Lösung gebrauchen. Dies bedeutet jedoch nicht automatisch, dass er auch bereit ist, in eine solche zu investieren. Nehmen wir die Heerscharen von Rauchern: Obwohl jeder weiß, dass es für die Gesundheit problematisch ist und es jede Menge Lösungsmöglichkeiten gibt, sind noch immer viele Menschen nikotinabhängig.

Sollten Sie zu den Ex-Rauchern gehören, können Sie sicher nachempfinden, wie der Entschluss entsteht, das Rauchen aufzugeben und in die Rauchentwöhnung zu investieren. Sie haben sich wahrscheinlich die Auswirkungen des Rauchens vor Augen geführt (Schmerz), wenn Sie weiter zur Zigarette greifen. Dies genügt jedoch noch nicht, um die ersten Tage ohne Zigaretten auszukommen. Überdies brauchen Sie auch eine klare Vorstellung von dem, was Sie genau erwartet, wenn Sie es geschafft haben. Und genau das ist die Nutzenerwartung. Schmerz und Nutzenerwartung – das sind die beiden Komponenten, die den konkreten Bedarf ergeben.

Professionelle Verkäufer trennen die Spreu vom Weizen

Latenter Bedarf heißt, dass sie etwas zwar gebrauchen könnten, jedoch erst dann eine Entscheidung treffen, wenn ein konkreter Bedarf entsteht. Professionelle Verkäufer und Berater haben gelernt, dieses Handwerkszeug anzuwenden und sind in der Lage, die Spreu vom Weizen zu trennen. Dazu verwenden sie diese Fragetechnik. Profis wissen, dass trotz bester Methoden zur Rauchentwöhnung noch immer genügend Raucher existieren.

Ebenso verhält es sich mit potentiellen Kunden, die nie zu ihren Kunden zählen werden – obwohl alle Voraussetzungen gegeben sind. Professionelle Verkäufer nutzen daher Fragen, um genau diejenigen zu finden, die sich für ihr Angebot entscheiden werden und hier ihre Kraft investieren. Denn sie wollen ihre Zeit nicht mit dem latenten Bedarf verschwenden. Wenn Sie sich darauf konzentrieren, den konkreten Bedarf zu finden und andere Verkaufschancen ohne konkreten Bedarf auszusortieren, dann werden Sie Ihre Vertriebsarbeit optimieren.

Ihr Stephan Heinrich

Bild: Free-Photos | pixabay.com

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